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                                      Der Sinn der angewandten Mathematik (1)

 

                                            von GUSTAV DOETSCH in Halle a/S.

 

 

            Kaum ist einem Zeitalter die Bedeutung exakter Naturwissenschaft so eindringlich vor Augen getreten wie dem unsrigen! Das stürmische Entwicklungstempo der Technik und Industrie in den letzten Jahrzehnten, die staunenerregenden technischen Anstrengungen aller Völker der Erde während des Weltkriegs, all das war nur möglich durch den Aufschwung, den die exakte Behandlung der Naturerscheinungen in Physik, Chemie und deren zahlreichen Ausläufern genommen hat. Das Zaubermittel aber, das dem Geiste des Naturforschers Schwingen verlieh zum Flug auf selbst die steilsten und höchsten Gipfel, ist die Mathematik. Ein merkwürdiges Bild: Diese Wissenschaft, wie eine Geheimlehre gepflegt nur in einem engen Kreise von eingeweihten, von niemand sonst (außer in ihren niedrigsten Zonen) gekannt und infolgedessen gewürdigt, als reine Spekulation scheinbar ohne jegliche Beziehung zur handgreiflichen Wirklichkeit, gerade diese Wissenschaft liefert der auf das Reale gerichteten Naturwissenschaft das mächtigste Werkzeug. Wie ist das möglich, wie ist es überhaupt möglich, Mathematik auf die Sinnenwelt, auf die Welt unserer Erfahrung anzuwenden, was bezweckt und was leistet die angewandte Mathematik?

            Erinnern wir uns einmal daran, wie der Naturforscher dazu kommt, mathematische Betrachtungen in sein empirisches Material hineinzutragen! Ob es sich um ein einzelnen Fall oder um den Aufbau einer umfassenden Theorie für ein ganzes Gebiet handelt, - es ist der Drang nach einer Erklärung, nach Erkenntnis oder nach Wahrheit, der ihn dazu veranlaßt. In diesem Drange manifestiert sich eine eigenartige überzeugung, die mit dem menschlichen Geiste mit Notwendigkeit verknüpft ist, nämlich: daß man – um es roh zu sagen – jedem Sachverhalt durch begriffliches „Nachkonstruieren“ müsse „auf den Grundkommen können. Allerdings: Bei diesem Streben nach Einblick in das Wesen der Dinge und ihres Geschehens bleibt die Naturwissenschaft wie jede Einzelwissenschaft von vornherein bewußt oder – wie meist – unbewußt in gewissen Schranken, im Gegensatz zur Philosophie: Der Gegenstand, den sie aufklären möchte, sind die mit den Sinnen wahrgenommenen Geschehnisse der Außenwelt. Dieses durch die Erfahrung gelieferte Material wird als etwas Fertiges, nicht weiter Problematisches hingenommen. Weiter zurück schürfen die Einzelwissenschaften in ihrem Erklärungsdrange nicht, indem sie das noch tiefer liegende Problem: wie dieses Material zustande gekommen ist (ob etwa nach Kant durch Formung des Bewußtseinsinhaltes vermittels der Kategorien), mit Recht der Erkenntnistheorie überlassen. Es ist klar, daß die Stellungnahme zu diesem Problem nicht ohne Einfluß sein kann auf die Beurteilung der Leistungen der Einzelwissenschaften  für die von ihnen in Angriff genommene  Aufgabe.(2) Für heute aber genüge die Konstatierung, daß die Naturwissenschaft auf dem Boden des empirischen Realismus steht, so unhaltbar er als philosophische Grundanschauung ist; ihr Gegenstand besitzt die Form einer objektiven Wirklichkeit, lediglich innerhalb dieses Kreises ergeht sich das Erkenntnisstreben der Einzelwissenschaften.

            Der Naturwissenschaftler sieht sich also einem gewissen Tatsachenkomplex gegenüber, den er zu ordnen, zu begreifen, zu entwirren sucht, dessen Zusammenhänge er enträtseln möchte. Der unübersehbaren Mannigfaltigkeit von Individualitäten mit ihren unendlich vielen verschiedenen Merkmalen, Charakteristiken, die jeden einzelnen Vorgang wieder als einen neuen, noch nie dagewesenen, also auch in seinem weiteren Verlauf gänzlich unbekannten erscheinen lassen, stände er hilflos gegenüber, wenn er sich nicht zu einem Gewaltakt entschlösse: Das erste, was er tut, ist, daß er den realen Gegenstand oder Vorgang, diese empirische Realität, ersetzt durch eine Begriffsbildung, durch eine dem denkenden Geiste entsprungene Rationalität – sei es, daß er den betreffenden Gegenstand idealisiert, wie man zu sagen pflegt, sei es,  daß das Geschehnis in ein völlig anderes Licht gesetzt wird, wie beim Ersatz der phänomenologischen Qualitäten durch physikalisch-begriffliche Quantitäten.

            Ein ungeheurer Schritt! Ein Sprung von einer Welt in eine andere! Halten wir nur das Ausmaß diese Schrittes recht vor Augen, so können uns die späteren Konsequenzen nicht zum Verwundern bringen.

            Der Naturwissenschaftler operiert also gar nicht mit den Dingen der  Erfahrungswelt und ihren empirischen Zusammenhängen, sondern mit Begriffskonstruktionen, denen gewisse Eigenschaften und Wirkungen zugeschrieben werden. Da werden eine Fülle von teils deutlich ausgesprochenen, teils ganz unmerklich angenommenen Hypothesen aufgestellt, und in ganz streng ausgebildeten Gebieten pflegt man sogar in rein architektonischer Form alle Aussagen aus einer scharf umgrenzten Gruppe von Axiomen abzuleiten.

            Dieses freiwillige Verzichtleisten auf die Sinnenwelt und diese Bereitstellung des Materials für eine  neue Welt war aber nur die Vorbereitung für die Hauptarbeit. Das Ziel des Wissenschaftlers war doch, das Gesamtgebiet seiner Erscheinungswelt zu begreifen, zu verstehen, und dies sucht er dadurch zu erreichen, daß er nun unter Außerachtlassung der empirischen Realität rein logisch mit seinen begrifflichen Schemata operiert, die logischen Konsequenzen seiner Annahmen zieht. Damit wird natürlich nicht ausgeschlossen, daß er sich durch Erfahrung und Anschauung anleiten und stützen läßt. Aber zwingende überzeugung wird jetzt noch durch logische Schlüsse hergestellt. Die Verstandesgebilde und die zwischen ihnen postulierten Beziehungen bilden den Keim, aus dem sich rein verstandesgemäß ohne Bezugnahme auf die Wirklichkeit Stück für Stück ein Baum mit weiten Verzweigungen entwickelt.

            Hier ist nun die Stelle, wo die Mathematik einsetzt, und wo es zu begreifen gilt, weshalb sie in die Naturwissenschaft eingreifen kann und muß. Der Sinn der Mathematik besteht nämlich darin, daß sie diese gedankliche Arbeit der logischen Entwicklung vorweggeleistet hat, oder zum mindesten, falls das in Frage kommende Gebiet noch nicht oder nicht hinreichende durchforscht und entwickelt ist, zu leisten unternimmt. So kann, wie das ja so häufig der Fall gewesen ist, die Naturwissenschaft statt nur empfangend umgekehrt auch anregend auf die Mathematik wirken. Jedenfalls – sobald es sich darum handelt, die vom Naturwissenschaftler gemachten Grundannahmen sich auswirken zu lassen, damit aus dem Keim der Hypothese der Baum der Theorie erblüht, hat der Mathematiker das Wort, er hat nun die eigentliche Konstruktionsarbeit zu leisten, aus dem einfachen Grund, weil hier seine ureigenste Domäne liegt. Zunächst einmal sind die Begriffe, mit denen operiert werden soll, gerade seine Begriffe, wie Zahl, Funktion usw.; sodann aber ist eben dies: Aufbau und Entwicklung eines formalen Gerüstes aus gewissen Grundannahmen die spezifisch mathematische Tätigkeit. All diese formalen Aufbauten bewerkstelligt der Mathematiker als Selbstzweck. Und das Endergebnis dieser Denkprozesse ist gerade das, was der Naturwissenschaftler braucht. Für diesen handelt es sich ja darum: Welche anderen Tatsachen sind mit den von mir angenommenen Grundtatsachen mit Denknotwendigkeit verknüpft? Die Erarbeitung dieses logischen Gebietes nimmt ihm die Mathematik ab. Der Naturwissenschaftler braucht  nun z. B. nicht den Grenzprozeß, der ihn zur Geschwindigkeit als Differentialquotienten führt, für diesen  einzelnen Fall durchzuführen, er braucht nicht die Integration zu erfinden, um aus den Kräften die Bewegungen der Körper zu bestimmen, er braucht nicht die Eigenschaften eines Raumes mit irgendeiner nichteuklidischen Maßbestimmung zu erforschen, all diese Arbeit hat der Mathematiker geleistet, oder er leistet sie sozusagen auf Bestellung. In den Gefachen der zahllosen mathematischen Theorien liegt im Prinzip bereits jedes Gebiet der Logik, das der Naturwissenschaftler nötig hat, fertig vor, fast stets viel, viel weiter entwickelt, als der Naturwissenschaftler es je braucht, nicht zu gedenken der vielen Gebiete, die vielleicht die Naturwissenschaft brauchen wird, oder, wie man so schön sagt: die keiner Anwendung fähig sind – der Nichtmathematiker mit einem gewissen Lächeln über so eine brotlose Kunst, der Mathematiker mit heimlichen Stolz auf diese in ihrer wundervollen formalen Harmonie den eingeweihten tief beglückenden, nur ihm zugänglichen Schätze aus dem Reiche der Schönheit und es inneren Schauens.

            So also kommt die Mathematik zur „Anwendung“: Sie spielt die Rolle eines genialen Konstrukteurs, der aus gegebenen Bausteinen und Verbindungsmöglichkeiten ein in sich geschlossenes Gerüst aufführt. Nun leitet ja die Naturwissenschaft nicht die rein theoretische Freude an diesem logischen Bauwerk, sonder ihr Ziel war die Erkenntnis, die Beherrschung ihres realen Interessengebietes. Es bleibt also noch ein Schritt übrig, der dem vorhin getanen von der empirischen Wirklichkeit zur rationalen Begriffsbildung entgegengesetzt ist: Es gilt nun, jedem Kontenpunkt des logischen Fachwerkes der Theorie, jedem mathematischen Ergebnis wiederum eine reale Tatsche des betreffenden Gebietes zuzuordnen. Dies ist nichts Anders, als die bekannte Prüfung der übereinstimmung von Theorie und Erfahrung. In vielen Fällen ist diese übereinstimmung eine glänzende – und trotzdem: Wie manche Theorie ist schon dem tödlichen Pfeil erlegen, nämlich der ersten nicht mit ihr übereinstimmenden Tatsache! Wie manche Theorie hat eines Tages ausgelebt, indem sie sich als unverträglich  mit gewissen Erfahrungen herausstellt! Ein Grund hierfür liegt zunächst auf der Hand: Als wir den Schritt von der Erfahrung zur Theorie taten, war ja das unumgänglich Erste, daß wir die empirischen Gegenstände des Gebietes durch rationale Begriffsbildungen, die zwischen ihnen bestehenden Beziehungen durch mathematisch gefaßte Gesetzlichkeiten ersetzten. Vielleicht waren die gewählten Begriffsbildungen ungeeignet, und es müssen „in Wahrheit“ andere gewählt werden – auf diese „in Wahrheit“ komme ich gleich zurück. Und so sehen wir in der Tat jede neue Theorie mit dem mehr oder weniger unverhüllten Anspruch auftreten, daß sie nun die  Wahrheit gefunden habe, daß ihre Begriffsbildungen die richtigen seien. Der wesentliche Grund für das sich unausweichlich einstellende Versagen jeder Theorie liegt aber tiefer, er liegt in dem ungeheuren Ausmaß des zuerst getanen Schrittes. Die Erfahrung und die Theorie gehören ja zwei grundverschiedenen Welten an, die Erfahrung spielt sich ab in der empirischen Wirklichkeit, die Theorie im rationalen Denken, im Verstande. Wie sollen diese beiden Welten dazu kommen, miteinander übereinzustimmen, sich gewissermaßen nacheinander zu richten? Welche soll sich nach der anderen richten, oder sind beide wie zwei gleichgestellt Uhren, also gewissermaßen Untertanen einer über ihnen thronenden Gesetzlichkeit? Man sieht, es sind Grundfragen der Philosophie, die hier auftreten, die alte Frage: Stimmen Erfahrung und Denken überein? Oder, wenn man davon überzeugt ist: Warum stimmen sie überein? Ich sage: Sie stimmen nicht überein, jede sterbende Theorie beweist es ja! Welchen Sinn soll diese übereinstimmung zwischen empirischer Wirklichkeit  und rationalem Denken überhaupt haben? Mag auch die Form der empirischen Wirklichkeit durch das erkennende Subjekt begründet sein, ihr Inhalt ist doch schlechthin irrational, vom erkennenden Subjekt unabhängig, wohingegen die mathematischen Begriffsbildungen ganz in der Sphäre des theoretischen Verstandes liegen, schlechthin rational sind. Daß ein empirischer Ablauf und ein rationaler Ablauf nicht übereinstimmen, ist nicht Verwunderliches, einzig verwunderlich ist nur, daß sie manchmal recht gut übereinstimmen! Es hat also gar keinen Sinn, eine Theorie richtig oder falsch zu nennen oder die „wahre“ Theorie eines Gebietes zu suchen. Während also z. B. nach Kant die mathematische Theorie eine notwendige, allgemeingültige Anschauung der Wirklichkeit geben soll, wird hier behauptet, daß eine mathematische Theorie gar keine Wahrheit geben kann, da sie dem Wesen der Erscheinungswelt prinzipiell nichts zu tun hat, uns also auch nicht darüber aufklären vermag.

            Sehr instruktiv ist in dieser Hinsicht das oft untersuchte Verhältnis von Kausalität und Naturgesetz. Kausalzusammenhang haben wir in der empirischen Welt zwischen je zwei Ereignissen, jedesmal individuell, neu einzigartig. Das Naturgesetz dagegen gehört der Welt der Theorie an, es verbindet zwei rationale Schemata, die ja ihrerseits die Vertreter für unendlichviele empirische Tatsachen sind; so kommt überhaupt der Gesetzescharakter zustande, nämlich diese für unendlichviele Fälle gültige, Bindung. Aber auch das Naturgesetz ist nicht der Kausalzusammenhang und erklärt ihn auch nicht, sondern es beschreibt ihn eben in dem vorhin ausgeführten Sinn. Die Physiker sind allerdings meist anderer Ansicht. So sagt z. B. Max Planck(3), nachdem er daran erinnert hat, daß das Newtonsche Anziehungsgesetz das Gesetz der schwere, die Keplerschen Planetengesetze die Gesetze der Störungen, Kometen usw. umfaßt: „Da nun die Möglichkeit einer derartig leistungsfähigen Hypothese gewiß nicht dem reinen Zufall zugeschrieben werden wird, so erscheint die Schlußfolgerung berechtigt, daß die Aufstellung des Newtonschen Gravitationsgesetzes im Grunde nicht als eine zweckmäßige Erfindung, wie einige Naturphilosophen wollen, sondern als eine erkenntnismäßige Entdeckung zu bewerten ist.“ Im Gegensatz hierzu ist es von dem vorhin dargelegten Standpunkt aus ein vergebliches Unterfangen, dem Wesen der Erscheinungswelt mit einer Theorie auf den Grund kommen zu wollen. Eine Theorie ist kein lebenswahres Bild der Welt, sondern gewissermaßen ein Netz, ein Gewand, das über den Körper der Erscheinungswelt gezogen wird, das auch über ein gewisses Stück hin gut paßt, bis man an Stellen kommt, wo dieses Gewand den Biegungen des Körpers sich nicht mehr anzuschmiegen vermag, wo sich also Diskrepanzen ergeben.

            Es drängt sich hier ein mathematischer Vergleich auf: so wie man eine stetige Funktion innerhalb eines gewissen Intervalles durch eine rationale Funktion mit einer bestimmtem Genauigkeit approximieren kann, während außerhalb des Intervalles die größten Abweichungen auftreten könne, so approximiert das rationale Netz die Welt in einem gewissen Gebiet so gut, daß keine fühlbaren Abweichungen auftreten – sie sind zwar vorhanden, legen aber innerhalb der Schwelle des Erkennbaren. Ja, der Vergleich läßt sich in einem noch wichtigeren Punkte weiterführen: wir wissen, daß, wie klein man auch die Fehlergrenze vorschreibt, die Approximation der stetigen Funktion immer möglich ist. Geradeso hat der Naturforscher die feste überzeugung, daß er bei begrenztem Erscheinungsgebiet immer wieder eine Theorie erfinden kann, die eine bessere Approximation liefert, die scheinbare übereinstimmung mit der Erfahrung zeigt, wie scharf auch die Beobachtungen werden, wie klein die Schwelle des Unmerklichen wird. Beweisen kann man das nicht, das ist eine überzeugung, ein Postulat, aber ein solches, ohne das die wissenschaftliche Arbeit ihren Sinn verlieren würde. Denn wenn es überhaupt einen Sinn haben soll, theoretisch über eine Erfahrungstatsache zu reflektieren, und zwar nicht nur in subjektiven, unverbindlichen Gedankengängen, sondern mit der Tendenz auf Objektivität, so muß man annehmen, daß es eine Wahrheit gibt, die wenn sie sich auch nicht in Worten beschreiben und abbilden, rational erfassen läßt, doch so genau, wie man es für den vorliegenden Zweck braucht, durch gedankliche Nachkonstruktion approximiert werden kann. Damit gebe ich dem Wahrheitsbegriff im Bereich der empirischen Wirklichkeit eine spezifisch mathematische Wendung: so wie in dem vorhin erwähnten Vergleich die stetige Funktion die „Grenze“ ist, der die rationale Funktionen zustreben, so ist die Wahrheit, das wahre Wesen einer empirischen Tatsache ein Grenzbegriff, dessen Existenz ich nicht in Zweifel stellen kann, ohne sofort mein ganzes Denken überhaupt jeglichen Sinnes zu berauben, der aber – was für den Mathematiker nichts Befremdendes hat – von seinen rationalen Annäherungen essentiell verschieden ist und infolgedessen nie in rationaler Form hingestellt werden kann, auch gar nicht hingestellt werden braucht. Das, womit gedanklich gearbeitet wird, ist eines der Annäherungsstadien, das mit einer für den gerade vorliegenden Zweck unwesentlichen Ungenauigkeit behaftet ist.

            Das für die Naturwissenschaft Gesagte gilt speziell auch für die Geometrie, die man ja heute gern unter die Physik subsumiert. Unserer Bewußtseinstatsachen vom Raum bilden sozusagen das Material einer Naturwissenschaft. Aber von dem empirischen Raum mit seinen Eigenschaften ist der mathematische Bergriff „Raum“ toto coelo verschieden. In ihm gibt es Punkte und Kurven, die nie in der Erfahrung vorkommen, er hat eine Maßbestimmung, von der  der empirische Raum natürlich nichts weiß, usw. Und es ist weiterhin genau wie in jeder Naturwissenschaft: Wir wissen niemals, welche Geometrie nun eigentlich zu unserem Raume stimmt, welche die „richtige“ ist. Die Frage nach der wahren Geometrie des Raumes ist ebenso sinnlos wie die nach der wahren Theorie der physikalischen Erscheinungen. Dem räumlichen Bewußtseinserlebnis schlechthin, so wie es erlebt wird, ohne überdenken, ist jeglicher mathematischer Begriff, insbesondere der der Zahl, fremd. Erfahrungsraum und mathematischer Raum gehören eben zwei grundverschiedenen Welten an, und es ist ein von vornherein aussichtsloses, sinnloses Beginnen, die „wahre“ mathematische Konstitution des Erfahrungsraumes finden zu wollen. Der Erfahrungsraum hat keine mathematische Konstitution. Aber auch hier sind wir überzeugt, daß wir mit jeder verlangten Genauigkeit ein gewisses Gebiet des empirischen Raumes durch eine mathematische Geometrie approximieren können. Jede Geometrie ist und bleibt aber eine mathematische Theorie – man kann einerseits nicht von ihr verlangen, daß sie das wahre Wesen des Raumes wiedergebe, man darf ihr anderseits nicht, wie früher den nichteuklischen Geometrien, den Vorwurf machen, sie sei nicht möglich, nicht „vorstellbar“. Als mathematische Theorie, als logische Spekulation hat jede Geometrie ihre Berechtigung; es kann natürlich vorkommen, daß schon in den Anfängen keine Beziehung zum Erfahrungsraum besteht, daß die Diskrepanzen schon von Anfang an so sichtbar sind.

             Die Anschauung und Tendenz, der hier Ausdruck gegeben wird, tritt vielleicht deutlicher hervor, wenn ich sie mit einer anderen kontrastieren lasse. Felix Klein hat gelegentlich in seinen Vorlesungen und Arbeiten auch Bezug genommen auf das Verhältnis von Erfahrung und Mathematik. Manche dieser Ausführungen scheinen zunächst durchaus mit der vorgetragenen Anschauung übereinzustimmen. So macht Klein z. B. in seiner Vorlesung über Riemannsche Flächen die Existenz von Potentialen auf solchen Flächen dadurch plausibel, daß er sich die Fläche als elektrisch leitend denkt und nun an zwei Punkten die Pole einer Batterie anlegt. Die entstehende elektrische Strömung ist nach der mathematisch-physikalischen Theorie eine Potentialströmung, liefert also das empirische Abbild einer auf der Fläche  existierenden Potentialfunktion. Hierzu knüpft Klein nun folgende Erwägung(4): „Die physikalische Betrachtung, welche wir vorausstellten, hat jedenfalls sog. heuristischen Werth, d. h. sie läßt die Theoreme, welche wir erreichen wollen, in besonders übersichtlicher Form entstehen, so zwar daß man glauben könnte, sie selbst gefunden zu haben (wie denn die physikalische Betrachtung auch historisch genommen den Anstoß zur Aufstellung der Theoreme gegeben hat). Aber sie macht einen mathematischen Beweis der Theoreme, wie überhaupt eine mathematische Präcisirung derselben nicht überflüssig .... Zunächst bemerke man, daß die Aufstellung unserer Theoreme an das physikalische Experiment nicht unmittelbar, sondern nur vermöge eines Analoggieschlusses anknüpft .... Der Gebrauch der partiellen Differentialgleichung ... ist nur insofern gerechtfertigt, als die Erfahrung lehrt, daß in den einfacheren Fällen, die wir mathematisch beherrschen können, die hieraus entstehenden Folgerungen mit den Ergebnissen des Experiments ... übereinstimmen. Daß aber die übereinstimmung noch weiter reicht, insbesondere also, daß wir die Sätze über die Integrale der partiellen Differentialgleichung in noch unbekannten Fällen derselben entnehmen können, ist in keiner Weise notwendig.“ Soweit stimmt anscheinend alles aufs Beste mit der von mir vorgetragene Anschauung überein. Daß aber die geistige Einstellung gegenüber unserem Hauptproblem: was denn die Mathematik für die Erfahrung bedeute, eine grundverschiedene ist, geht aus den weiteren Ausführungen Kleins hervor, die er übrigens in einer Arbeit „Zur Nicht-Euklidischen Geometrie“ umfangreicher entwickelt hat, weshalb ich mich weiterhin an diese halten will. Er sagt dort, indem er zunächst genau wie ich vorhin gegen die am weitesten verbreitete Ansicht polemisiert, daß die Mathematik, insbesondere die Geometrie, das vollständige und genaue Abbild der Wirklichkeit sein Folgendes(5): „Die betreffende Ansicht geht dahin, daß die Axiome die ‚Thatsachen‘ der räumlichen Anschauung formuliren und zwar so vollständig formuliren, daß es bei geometrischen Betrachtungen unnöthig sein soll, auf die Anschauung als solche zu recurriren, es vielmehr genügt, sich auf die Axiome zu berufen.“ Den ersten Teil dieses Satzes – nämlich daß die Axiome der adäquate Ausdruck der anschauungsmäßigen Tatsachen seien – bestreitet nun Klein mit folgenden Worten, die mir für seine ganze Auffassung charakteristisch erscheinen: „[Ich sehe] die räumliche Anschauung als etwas wesentlich Ungenaues [an], - mag nun von der abstracten Anschauung die Rede sein, wie sie uns durch Gewöhnung geläufig geworden ist, oder von der concreten Anschauung, die bei empirischen Beobachtungen zur Geltung kommt. Das Axiom ist mir nun die Forderung, vermöge deren ich in die ungenaue Anschauung genaue Aussagen hineinlege. ... Der Inhalt der Axiome erscheint bei dieser Auffassung so weit willkürlich, als mit der Ungenauigkeit unserer Raumanschauung verträglich ist. Eben hierin, aber auch nur hierin, ruht für mich die Berechtigung der Nicht-Euklifischen Geometrie (unter Nicht-Euklischen Geometrie die reale Disziplin und nicht bloß die abstracten mathematischen Betrachtungen verstanden, zu denen dieselbe Anlaß gegeben hat). ... Was aber die Entstehung der Axiome angeht, so weiß ich darüber nichts weiter zu sagen, als daß wir die zu ihnen führenden Abstraction hier wie in anderen Gebieten unwillkürlich vollziehen. Das, was in der Anschauung oder im Experimente nur approximativ gegeben ist, das formuliren wir in exacter Weise, weil wir anderenfalls damit nichts anzufangen wissen.“ Diese Worte charakterisieren Kleins Standpunkt und den Abstand gegenüber der vorhin vorgetragenen Anschauung wohl hinreichende deutlich: Klein fühlt dasselbe Dilemma zwischen Erfahrung und mathematischer Theorie, aber er sucht den Ausweg in genau entgegengesetzter Richtung. Er geht von einer ganz anderen Einstellung, von der mathematischen Seite aus, ihm ist das exakte Mathematische durchaus das wirklich Wesentliche, was übrigens besonders deutlich in einer anderen Arbeit(6) zu sehen ist, wo er sich fragt, ob man den allgemeinen Funktionsbegriff durch eine gedachte oder gezeichnete Kurve – im anschauungsmäßigen Sinne – repräsentieren kann. Von dem vorhin skizzierten Standpunkt aus müßte man die Frage ja gerade umgekehrt stellen: Was entspricht im Gebiet des Rationalen der empirischen Kurve? Wie läßt sie sich rational, mathematisch beschreiben? – Für Klein ist die Anschauung „ungenau“, durch die Aufstellung von Forderungen, von Axiomen, bringt er erst präzise Formulierungen zustande, er meint, daß wir uns, wie er es in seinen Vorlesungen über nichteuklidische Geometrie(7) ausgedrückt hat, vermöge der Axiome „über die Ungenauigkeit der Anschauung oder über die Begrenztheit der Genauigkeit der Anschauung zu unbegrenzter Genauigkeit erheben“. Welches ist nun aber das Verhältnis der naiven und der so präzis gemachten Anschauung? Es liegt diesen Sätzen wohl unausgesprochen die Anschauung zugrunde, daß die Erfahrungstatsachen ihrem wahren Wesen nach nicht das sind, als was sie uns erscheinen, sondern daß sie einen rationalen Kern haben, dessen Konturen der Anschauung aber nur verschwommen erscheinen. Unverständlich aber bleibt, wie man durch Aufstellung von mathematischen „Forderungen“ diesen Kern soll in seiner Reinheit erfassen können.

            Ähnliches wie für die Anwendung von Mathematik auf Erfahrung gilt übrigens in jeder Wissenschaft, die nicht bloß eine Anhäufung von Tatsachenmaterial darstellt, sondern durch theoretische Betrachtung eine Aufhellung ihres Wissensgebietes versucht. Jede Theorie tut der Sache Gewalt an, sie bewegt sich in einer prinzipiell anderen Welt als die ist, der die Erfahrungsinhalte angehören. Ich denke z. B. an die  kunstgeschichtlichen Theorien vom Werden und Wesen des Kunstwerks. Auch hier die überzeugung, daß sich dies doch einmal rational ein Worte müsse fassen lassen, - und auch hier ist das wahre Wesen doch nur ein Grenzwert, dem man sich mühevoll immer dichter annähern kann, ohne ihn je ganz zu fassen. Freilich treten diese Theorien meist mit vielen höheren Ansprüchen auf; denn solange nicht geklärt ist, was Theorie einzig geben kann, behauptet diese meist kühn, nun wirklich das Wesen der Sache entdeckt zu haben. Ein Beispiel hierfür ist die ganz moderne Theorie Ostwalds vom Wesen der Malerei, die von den Gesetzmäßigkeiten in den Farbnuancen beim Zustandekommen eines ästhetischen künstlerischen Eindrucks ausgeht.

            In solch rationalistischem Dogmatismus spricht sich das Charakteristische der Geistesepoche aus, die augenblicklich im Untergehen ist. Es ist der Geist des – wie man sagen könnte – naturwissenschaftlichen Zeitalters, das im wesentlichen mit dem 19. Jahrhundert zusammenfällt und das in unseren Tagen unter gewaltigen Zuckungen ins Grab sinkt, um einem neuen Geiste, einem neuen Lebensgefühl Platz zu machen, genau wie eine Epoche früher, als die metaphysische Spekulation und der Idealismus sich ausgelebt hatten, die junge Naturwissenschaft mit ihren gewaltigen Erfolgen siegesbewußt auf den Plan trat und sich nun auch vermaß, aus ihrem Material eine Weltanschauung zu zimmern. So entstand, indem man überall, auch da, wo es nicht paßte, sich allzu vertrauensvoll der naturwissenschaftlichen Methode in die Arme warf, ein naturwissenschaftliches Lebensgefühl, dem nun schließlich die Einsicht  in das Wesen, die Grenzen und Möglichkeiten des rationalistischen Betriebes abhanden kam. Ich erinnere nur daran, daß man die Einsteinsche Relativitätstheorie zu einer philosophischen Weltanschauung hat machen wollen.

            Aber die Epoche, an deren Anfang wir uns zweifellos heute befinden, ist dieser rationalistischen Gesinnung satt. Ob wir den Expressionismus in der Kunst, ob wir die vielfach noch nicht ganz deutlich hervortretenden neueren philosophischen Tendenzen oder sonst irgendein Gebiet des Lebens und Denkens ins Auge fassen, überall eine immer stärkere Abwendung von dem Geist, der alles und jedes in dürre Worte, auf eine Formel bringen zu müssen und bringen zu können glaubt – eine Abwendung aus dem unbewußten Gefühl heraus: Dieser Weg führt uns nie und nimmer zum Wesen der Dinge, wir müssen versuchen, „näher“ an die Sache heranzukommen, uns in sie selbst hineinzuversetzen. Ob die neuen Wege zum Ziele führen, ob sie überhaupt nur näher heranführen, bleibe dahingestellt. Hier kam es mir nur darauf an, in der naturwissenschaftlichen Domäne selbst, die so vielen anderen zum Vorbild gedient hat, darauf hinzuweisen, daß die mathematische Behandlung des Erfahrungsmaterials weit davon entfernt ist, über das Wesen der Welt Aufschluß zu erteilen, also eigentliche Erkenntnis zu erteilen, also eigentlich Erkenntnis zu liefern. Die Anwendung von Mathematik auf Erfahrung hat lediglich den Sinn, daß sie ein ideales Werkzeug zum Aufbau eines rein im Verstande gegründeten Gedankengebäudes liefert, das bei vernünftiger Anlage in gewissen Teilen als approximatives Abbild der Wirklichkeit gelten kann.

            Es leidet nun keinen Zweifel, daß die Mathematik in dieser  Richtung imposante Erfolge aufzuweisen hat und daß die überzeugung, von der ich vorhin sprach, nämlich daß es immer wieder gelingen werde, zu jeder Erweiterung des Erfahrungsgebietes eine passende Theorie zu finden, durch jede neue Theorie auch neue Nahrung erhält. Auf diese Leistung kann die Mathematik mit Recht stolz sein, wenn auch darin – nämlich in der Anwendung auf die Wirklichkeit – nicht ihr eigentliches Wesen und ihr Wert liegt. Um so besser, wenn sie auch in ihren Anwendungen so Glänzendes zu leisten vermag, daß keine andere Wissenschaft auch nur annähernd dem etwas an die Seite stellen kann. Aber der Mathematiker muß sich, sobald er das Gebiet der Anwendungen betritt, auch darüber klar sein, welches nun eigentlich der Sinn seiner Leistungen auf diesem Gebiet ist; daß er seine großen Erfolge dadurch erreicht, daß er sich von der erforschenden dunklen Sphäre in eine prinzipiell andere Welt von leuchtender Klarheit begibt, klar deshalb, weil sie – gemessen an dem Chaos des lebendigen Bewußtseins – so außerordentlich einfach ist. Auf die angewandte Mathematik trifft deshalb ein  Urteil Hegels zu, das er in der „Phänomenologie des Geistes“(8), mißverstehend allerdings über die Mathematik selbst, die reine Mathematik, ausgesprochen hat: „ Die Evidenz dieses mangelhaften Erkennens, auf welche die Mathematik stolz ist, und womit sie sich auch gegen die Philosophie brüstet, beruht allein auf der Armuth ihres Zweckes und er Mangelhaftigkeit ihres Stoffes. ... Ihr Zweck oder begriff ist die Größe. Dieß ist gerade das unwesentliche, begrifflose Verhältniß. Die Bewegung des Wissens geht darum auf der Oberfläche vor, berührt nicht die Sache selbst, nicht das Wesen oder den Begriff, und ist deswegen kein Begreifen.“ So weit Hegel, der ja allerdings kein Mathematiker war, sondern von einer ganz anderen, der mathematisch-naturwissenschaftlichen geradezu entgegegengesetzten Einstellung aus die Welt ansah. Sollte er also nicht als der Geeignete angesehen werden, um die angewandte Mathematik zur richtigen Selbsteinschätzung zu bringen, so verweise ich auf die Worte eines unserer glänzendsten zeitgenössischen Mathematiker, Hermann Weyl, der in seinem berühmtem Werk „Raum – Zeit –Materie – die Mahnung ausspricht(9): Alle Anfänge sind dunkel. Gerade dem Mathematiker, der in seiner ausgebildeten Wissenschaft in strenger und formaler Weise mit seinen Begriffen operiert, tut es not, von zeit zu Zeit daran erinnert zu werden, daß die Ursprünge in dunklere Tiefen zurückweisen, als er mit seinen Methoden zu erfassen vermag. Jenseits alles Einzelwissens bleibt die Aufgabe, zu begreifen.“

 

 

 



(1) Antrittsvorlesung gelegentlich der Umhabilitierung von der Technischen Hochschule Hannover an die Universität Halle a/S. am 27. Januar 1922.

(2) über diesen Gegenstand bereite ich seit längerer Zeit eine ausführlichere Arbeit vor. Im gegenwärtigen Vortrag bin ich der Festlegung auf ein bestimmtes „System“ mit Absicht nach Möglichkeit aus dem Wege gegangen.

(3) Planck, Einführung in die allgemeine Mechanik, 2. Aufl., Leipzig 1920. S. 70

(4) F. Klein, Riemannsche Flächen I. Autographierte Vorlesung, S. 16f.

(5) Math. Ann. 37 (1890), S. 544-572 (S. 571, 572)

(6) F. Klein, über den allgemeinen Functionsbegriff und dessen Darstellung durch eine willkürliche Curve.  Math. Ann. 22 (1883), S. 249-259

(7) F. Klein, Nichteuklische Geometie I. Autographierte Vorlesung, S. 356

(8) Hegels Werke: Phänomenologie des Geistes, herausg. von Johann Schulze, 2. Aufl., Berlin 1841, S. 33

(9) 4. Aufl. 1921, S. 9


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